Brexit auf Crash-Kurs
Mittlerweile sind es nur noch wenige Wochen bis zum offiziellen Brexit-Termin am 29. März und weiterhin ist keine Einigung auf einen geregelten Austritt in Sicht. Das britische Parlament wirkt zerstrittener denn je, was letztlich zur paradoxen Folge hat, dass die EU keinen echten Ansprech- oder gar Verhandlungspartner vorfindet, mit dem sie Kompromisse, Anpassungen oder Fristverlängerung abstimmen könnte.
Die Gräben im britischen Unterhaus sind scheinbar, dennoch ist der Verlauf nur schwer zu durchschauen. Einige Gruppen wollen den Brexit um jeden Preis, andere auf keinen Fall und wiederum andere wollen ihn oder auch nicht unter bestimmten Bedingungen und wollen darüber hinaus ganz unterschiedlich reagieren, falls diese Bedingungen nicht eintreten sollten oder erreicht werden können. Dabei scheint allen Beteiligten klar, dass es bei einem unveränderten Fortfahren zu einem großen Unfall mit schweren Folgen kommt. Da es keine substanziellen Vorbereitungen für den Ernstfall gibt, wären die wirtschaftlichen Schäden einer ausbleibenden Einigung für alle Beteiligten umkalkulierbar hoch.
Dennoch fahren sowohl EU als auch Großbritannien ihren Kurs unverändert fort. Die von bemerkenswerter Einigkeit geführte EU will den vorliegenden Vertragsentwurf nicht nachverhandeln. Das britische Parlament will den von britischer Regierung und EU gemeinsam erarbeiteten Entwurf so nicht annehmen, kann sich aber auch nicht auf eine eigene Verhandlungslinie einigen. Alle Akteure richten ihr Handeln scheinbar vollständig auf ein Einlenken der Gegenseite aus. Für eine Beantwortung der Frage, wer sich möglicherweise durchsetzt, kann das Chicken-Game aus der Spieltheorie helfen. Dabei fahren zwei Spieler mit hoher Geschwindigkeit im Sportwagen aufeinander zu. Wer ausweicht verliert das Spiel, wer nicht ausweicht riskiert sein Leben. Beide Spieler erwarten, dass der andere zuerst ausweicht, um nicht selbst zu verlieren. Maßgeblich für die Akteure bei ihrer Entscheidung „Ausweichen oder Weiterfahren“ ist also neben der Frage „was kann ich jeweils gewinnen oder verlieren?“ auch die Frage „wie wird sich die Gegenseite verhalten?“
In diesem Szenario scheint die EU zunächst im Vorteil: Sie hat das wesentlich größere Auto und deshalb bessere Überlebenschancen. Außerdem hat sie bislang bewiesen, dass sie den Wagen geschickt und sicher lenken kann. Allerdings würde die Siegprämie ihr Leben auch nicht wesentlich verändern. Etwas mehr Konjunktur in einem derzeit ohnehin guten Umfeld oder etwas mehr EU-Budget werden nicht über Wohl oder Leid der EU entscheiden.
Ganz anders Großbritannien: Die Briten treten im Mini gegen einen gepanzerten Mercedes an. Sie können bei einem Crash viel verlieren. Es könnte zu erheblichen Versorgungsengpässen und deutlichen Konjunktureinbrüchen kommen. Weitere Unternehmen würden abwandern. Drastische strukturelle und regulatorische Anpassungsprozesse würden unmittelbar ausgelöst werden. Folglich hat die EU zunächst Grund zur Annahme, dass die Briten bei der Anfahrt viel Tempo und Lärm machen werden, aber letztlich vor dem Crash doch Angst haben und ausweichen.
So weit alles erklärt? Vorteil EU? Weit gefehlt! Mittlerweile sind die Briten zwar mit hohem Tempo und Lärm auf der Anfahrt. Allerdings machen sie der EU zunehmend glaubhaft, dass sie die Kontrolle über ihren Wagen verloren haben bzw. dass nicht erkennbar ist, ob jemand und ggf. wer im entscheidenden Moment in das Steuer greift. Das hieße für die EU, dass sie sich nicht auf die Angst der Briten verlassen kann, welche schon noch rechtzeitig ausweichen und dem vorliegenden Einigungsvorschlag zustimmen sollen, um die schlimmen Schäden eines ungeregelten Brexits, hauptsächlich für Großbritannien, zu vermeiden. Unter diesem Blickwinkel wirft die zunächst völlig irrationale Verweigerung der Briten, sich konstruktiv mit dem unmittelbar bevorstehenden Brexit auseinander zu setzten, doch ein positives Licht auf das britische Verhandlungsgebaren. Leider attestiert die Spieltheorie auch einen praktisch unvorhersehbaren Ausgang der Verhandlungen.
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